Eva Weyl appelliert an Schüler
Die 83-jährige Holocaust-Überlebende Eva Weyl war am Mittwoch zu Gast in der Nünning-Gesamtschule. Dort appellierte sie als Zeitzeugin an „Zweitzeugen“.
GEMEN. „Gegen das Vergessen“ – deswegen ist Eva Weyl zur Nünning-Gesamtschule gekommen. „Ihr habt keine Verantwortung für die Vergangenheit, aber für die Zukunft“, redet die 83-Jährige ihren jungen Zuhörern ins Gewissen. Wie sich ihr Schicksal als jüdisches Mädchen während und nach der Nazi-Diktatur fügte, das schilderte Weyl gestern Vormittag den Zehntklässlern der Gesamtschule. „Ich bin Zeitzeugin, und ihr alle werdet Zweitzeugen“, sagte sie.
102.000 Menschen sind umgekommen
Weyls Vater stammt aus Kleve, die Mutter aus Freiburg. Eva, das einzige Kind, wächst in Arnheim auf, denn dorthin weicht die junge jüdische Familie kurz nach Hitlers Machtergreifung aus. Das Kaufhaus in Kleve lassen sie zurück. Sicher sind sie auch im Nachbarland nicht. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 werden alle in den Niederlanden lebenden Juden registriert und in das Lager Westerbork gebracht. Über drei Jahre bringt die Familie dort auf engstem Raum zu. Zehntausend Menschen auf der Fläche von fünf Fußballplätzen. „Es war eine Scheinwelt“, so Weyl. Es gab Essen, Arbeit und sogar ein wenig Zerstreuung. Und karg war es: „Wie im Mittelalter, nur mit Licht“, erklärt sie. Auch habe man keine schrecklichen Sachen gesehen, jedenfalls nicht als Kind. Doch der bescheidene Anschein von Normalität hat bei den Nazis System. Von Westerbork werden die Insassen in Züge Richtung Osten gepfercht – angeblich zum Arbeiten, in Wahrheit in die Vernichtungslager. 107.000 Menschen, berichtet die Zeitzeugin, seien durch das Lager geschleust worden, 102.000 seien umgekommen. „Meine Eltern und ich gehörten zu den 5000 Überlebenden.“ Was mehr oder weniger Zufall war, denn die Familie stand schon auf der Liste für die nächsten Transporte. Weil die Alliierten Luftangriffe flogen, fuhren die Züge aber nicht mehr ab, die Lagerinsassen suchten Schutz in ihren Baracken.
Am 12. April 1945 nehmen kanadische Einheiten Westerbork ein. „Das war unser Tag der Befreiung“, sagt Weyl. Und den feierten die Überlebenden seitdem jedes Jahr. Als sie ein paar Jahre nach dem Krieg als Teenager mal nicht am Gedenken teilnehmen wollte, habe ihr Vater sie gemahnt, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Wohl auch deswegen ist Weyl inzwischen etwa 50 Mal pro Jahr in Schulen zu Besuch, um gegen das Vergessen zu sprechen.
Ihre Schilderungen verknüpft sie mit eindringlichen Appellen an ihre aufmerksam zuhörenden „Zweitzeugen“: „Schaut auf den Menschen und vorverurteilt ihn nicht“, sagt sie. Vor ein paar Jahren habe sie zufällig eine Tochter des Westerborker SS-Lagerkommandanten Albert Konrad Gemmeker kennengelernt. Dieser habe, obwohl er zehntausende Menschen in die Vernichtungslager geschickt habe, nach dem Krieg allen Ernstes behauptet, von nichts gewusst zu haben. Seine Tochter leide Zeit ihres Lebens unter den Verbrechen ihres Vaters. Doch sei niemandem anzulasten, was die Eltern getan oder unterlassen hätten.
„Der Ruck nach rechts ist schlimm“
An den mehr als einstündigen Vortrag schließt sich eine kleine Fragerunde an. Ob sie angesichts ihrer Erinnerungen an Westerbork Angst vor Zügen habe, will ein Schüler wissen. „Das nicht“, antwortet Weyl. Nur: Wenn sie irgendwo Desinfektionsmittel rieche, fühle sie sich sofort an das Zeug erinnert, mit dem in Westerbork die Viehwaggongs für die Deportationen behandelt wurden. Auch nach der aktuellen politischen Entwicklung in Deutschland wird Weyl gefragt: „Der Ruck nach rechts in ganz Europa ist schlimm“, erklärt die 83-Jährige. „Bald dürft ihr wählen. Überlegt euch genau, wen. Und vergesst die Geschichte nicht!“
Nach zwei außergewöhnlichen Schulstunden bekommt Eval Weyl von den Mitgliedern des Teams „Schule gegen Rassismus“ einen Blumenstrauß überreicht.
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